Gotteserkenntnis

Gotteserkenntnis

(Rede von Hadhrat Musleh Mau‘udRA, gehalten am 16. März 1919, anlässlich der Jalsa Salana)

Für gewöhnlich habe ich in den letzten Jahren anlässlich der Jalsa am jeweils ersten Tag einige Ermahnungen dargelegt, die für die allgemeine Reform der Jamaat von Bedeutung waren, und am jeweils zweiten Tag einen Vortrag über ein theoretisches Thema gehalten, welcher der praktischen Reform der Jamaat zugutekäme. Doch dieses Jahr habe ich mich aufgrund einiger Begebenheiten dazu entschlossen, sofern diese meine Absicht denn im Einklang mit dem Willen Allahs steht, den Vortrag des zweiten Tages – der mit Ausführungen zu einem theoretischen Thema –, auf den ersten Tag vorzuverlegen und die Rede des ersten Tages, die üblicherweise ganz unterschiedliche Thematiken aufgreift, stattdessen am zweiten Tag zu halten.

In Übereinstimmung mit diesem Vorhaben werde ich Ihnen heute etwas über eine Sache von immenser Wichtigkeit erzählen. Bevor ich aber zum eigentlichen Thema komme, halte ich es für wichtig zu erklären, dass, zum Einen aufgrund der Langwierigkeit und Härte meiner Erkrankung, zum Anderen aufgrund der Tatsache, dass ich vor einigen Tagen nach Lahore gehen musste, wo ich kontinuierlich für einige Tage religiöse Diskussionen bis zur späten Stunde abhalten und auch zwei Vorträge halten musste, meine Gesundheit schwer gelitten hat und noch immer fühle ich mich sehr geschwächt. Folglich sehe ich mich im Moment auch nicht imstande, heute vielleicht auch nur zwei bis drei Stunden lang reden, geschweige denn, wie früher anlässlich der Jalsa, eine vier- bis sechsstündige Rede am Stück halten zu können.

Außerdem denke ich, dass auch meine Stimme vielleicht nicht alle erreichen können wird. Ich werde bemüht bleiben, soweit Gott mir die Kraft dazu gibt, mit lauter Stimme zu sprechen, damit sie jeden erreicht, doch falls sie jemanden nicht erreichen kann, so soll er diesen Umstand als in Übereinstimmung mit Gottes Weisheit ansehen. Gott lässt hören, wen Er will, und schließt aus, wen Er will. Niemand kann Seinem Willen und Wunsch trotzen und jedem Menschen obliegt es, den eigenen Willen dem Seinen unterzuordnen. So werde ich bemüht bleiben, Sie mit diesem Thema vertraut zu machen, welches für heute ausgewählt worden ist. Alles Weitere liegt in Gottes Händen.

In den vergangenen Jalsas habe ich Sie über die Zeugnisse in Kenntnis gesetzt, die mir hinsichtlich der Themen Zikr-e-Ilahi [1]und Haqiqat-ur-Roya[2] vorliegen. Heute aber möchte ich über ein dermaßen wichtiges Thema sprechen, dessen Kenntnis für jeden Menschen verpflichtend ist. Es ist von solch enormer Bedeutung, dass ohne seine Kenntnis jedwede Hoffnung auf Erlösung umsonst ist. Während meine vorangegangenen Vorträge untergeordnete und abgezweigte Thematiken behandelt haben, ist die heutige Rede von grundlegender und elementarer Bedeutung.

Ich bedauere, für die Darlegung dieses Themas in einer solchen Verfassung und zu einem solchen Zeitpunkt aufgestanden zu sein, da ich nicht genug Kraft habe, um es im Detail ausführen zu können. Sogar in diesem Augenblick plagen mich wegen der Müdigkeit nach den zahlreichen Begegnungen mit den Leuten und aufgrund des vielen aufgewirbelten Staubs solche Kopfschmerzen, dass mein Kopf sich sogar nach der Einnahme von Medikamenten bei der kleinsten Bewegung so anfühlt, als würde er gleich platzen. Nichtsdestotrotz werde ich bestrebt sein, so Allah will, diese Botschaft, die in meinen Augen die erste und letzte Botschaft für jeden Muslim ist, weiterzugeben.

Wie Sie wissen war ich in den letzten Tagen schwer krank. In diesen Tagen wurde ich sogar von Episoden sechsstündiger Herzschwächen heimgesucht. Diese Verfassung hat einen ganz besonderen Eindruck bei mir im Herzen hinterlassen, angesichts dessen ich eine Sache mit Ihnen teilen möchte, die sowohl für mich, als auch für Sie von äußerster Bedeutung ist. Zu jenem Zeitpunkt musste ich daran denken, welch außerordentlichen Wohltaten uns Gott doch durch den Verheißenen MessiasAS erwiesen hat; wie Er uns aus einem finsteren Abgrund herausgeholt und auf ein erleuchtetes Minarett gesetzt hat! Doch gleichwohl stehen noch sehr viele Anstrengungen und Bemühungen aus, um diese Lehre, die er den Menschen geben wollte, und die auch im Quran enthalten ist, vollends heranzuziehen. Zu dieser Zeit, als es mir so schien, dass mein letztes Stündlein geschlagen hatte, vereinnahmte, wenn überhaupt, mein Herz nur eine einzige Unruhe, nämlich, dass unsere Jamaat noch nicht dasjenige Niveau erreicht hat, was der Verheißene MessiasAS sich gewünscht hatte. Dafür habe ich zu jener Stunde, die man für meine letzte hielt, gebetet:

O Allmächtiger! Lass dieses Elend von uns weichen und gewähre unserer Jamaat das Licht und die Erkenntnis, die schon immer deine heiligen Diener auszeichneten.

Mein Herr hat meinen Ruf jener Stunde erhört und wiederum mir selbst die Gelegenheit gegeben, Sie auf Ihre Pflichten aufmerksam zu machen und zudem Ihr Augenmerk auch darauf zu lenken, für welchen Sinn und Zweck und für welches Ziel Sie überhaupt geboren wurden und wo der Gesandte Gottes Sie hinführen möchte.

Diese Thematik, die ich heute behandeln werde, habe ich schon letztes Jahr in einigen Reden angeschnitten, mit dem Sinn und Anliegen, auszuführen, wie man Gotteserkenntnis und Gottesbewusstsein erlangen kann. Allerdings sind diese Reden mittendrin stehengeblieben. Bis dahin waren erst vier Freitagsansprachen gehalten worden, als sich meine Gesundheit verschlechterte und ich eine lange Zeit außerhalb Qadians verbringen musste. Als ich von auswärts wieder heimkehrte, wurde ich erneut von der Erkrankung heimgesucht und so mussten die Ausführungen aufgeschoben werden. Zwar war die Thematik unvollendet verblieben, doch auch wenn sie vervollständigt worden wäre, wäre es nicht unzulässig gewesen, sie zu wiederholen. Wäre nämlich die Umsetzung erfolgt, hätte es auch keiner Wiederholung bedurft. Solange aber nichts in die Tat umgesetzt wurde, bleibt auch die Notwendigkeit weiterhin bestehen. Solange die Menschen also nicht mit der praktischen Umsetzung beginnen, bleibt es auch weiterhin erforderlich, dies darzulegen. 

Ich habe bereits erklärt, dass ich zurzeit nicht lange sprechen kann, doch ich denke, dass ich mich im Angesicht Gottes meiner Obliegenheit entledigt haben werde, wenn ich diese Botschaft in kurzen Worten weiterreiche. Dann kann ich sagen, dass ich ihnen diese Botschaft weitergegeben hatte. Wenn sie dann nichts davon umgesetzt haben, dann ist das ihre eigene Schuld, nicht meine. So Allah mich dazu befähigt, werde ich mich also heute hiermit meiner Pflicht entledigen. Gotteserkenntnis ist ein derart essentielles und wichtiges Thema, dass sich niemand von dessen Erfordernis freisprechen kann, sondern jedermann bedarf dessen. Es gibt viele, die sich beklagen, dass sie nicht den Vorzug und Genuss erlangen, der einem infolge des Glaubens zuteilwird. Sie sagen, dass sie die Gebete verrichten, das Fasten einhalten, die Pilgerfahrt vollziehen, das Zakat spenden, Almosen und Spenden geben und Bittgebete sprechen, doch trotz alldem nicht jenen Rang erreichen, auf dem sie Genuss und Wohlzufriedenheit davontragen. Solche Leute klagen, dass ihnen irgendwelche Techniken beigebracht werden mögen, durch die sie zu Gotteserkenntnis gelangen. Das ist freilich eine derart elementare Angelegenheit, dass hierfür doch erst die Schöpfung des Menschen erfolgte. Schon der Unterschied zwischen anderen Geschöpfen und dem Menschen ist eben der, dass dem Menschen im Gegensatz zu den anderen die Fähigkeit innewohnt, fest gegründetes Wissen um Gott erlangen zu können. Und wenn der Mensch diese nicht erlangt, dann ist er sogar noch schlimmer als das Vieh, weil diesem erst gar nicht die Kraft dazu verliehen wird, also ist es entschuldigt. Der Mensch aber besitzt die Fähigkeit dazu, lässt sie aber ungenutzt liegen.   

Also ist die Gotteserkenntnis für jeden Menschen von Bedeutung, denn ohne sie kann keiner vollkommen werden. In unserer Jamaat ist die Sehnsucht danach anzutreffen, dass in den Herzen die Liebe zu Allah entsteht und Partikel für Partikel des eigenen Körpers im Glanze Gottes erstrahlt. Doch trotz dieser aufrichtigen Sehnsucht gelangen sie nicht soweit und wehklagen unablässig. Es gibt sehr viele Menschen, die in den Nächten aufstehen und weinen und auch am Tage einen Großteil ihrer Zeit damit verbringen, Gott zu dem ihren zu machen, ohne dass ihr Bestreben von Erfolg gekrönt wird und trotz jeder Anstrengung und Beschwernis wird ihnen ihr Geliebter nicht zuteil und ihnen werden die Tore der Gotteserkenntnis nicht eröffnet. Zwischen ihnen und ihrem Geliebten bleibt eine Wand als Hindernis stehen.

Nun stellt sich die Frage: Was sind die Mittel und Wege, durch die dieses Hindernis überwunden und das Ziel erreicht werden kann? Die meisten von ihnen, die Gott nicht erreichen, wenden sich nach all den Bestrebungen und Bemühungen frustriert und enttäuscht ab und sind fortan überzeugt, dass es Gott gar nicht gibt. Hier noch sehnten sie sich nach Gott und bemühten sich um ihn, und dort schon wenden sie sich in völliger Verleugnung ab. Sie sagen: Uns wurde gesagt, dass man durch die Befolgung der Lehre des Islam zu Gott finden kann und wir haben in unserer Umsetzung nichts unversucht gelassen und alles in unserer Macht Stehende getan. Trotzdem haben wir Gott nicht gefunden, also sieht man hieran, dass es keinen Gott gibt, denn gäbe es ihn, hätten wir ihn sicherlich gefunden.[3]

Sehr viele Menschen hegen also den innigen Wunsch, dass ihnen auf irgendeine Art und Weise Gotteserkenntnis zuteilwird. Sie wachen, weinen und winden sich des Nachts vor Unruhe. Am Tage gleichen sie jener Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat. Sie sitzen förmlich auf glühenden Kohlen. Dennoch kommen sie nicht zu Gotteserkenntnis und Gottesbewusstsein. Nun stellt sich die Frage, ob es bedeutet, dass Gott nicht existiert, wenn Er einem trotz jeglicher Anstrengungen und Beschwernisse nicht zuteilwird. Und falls Er existiert, wird man einsehen müssen, dass es dann keinen Weg gibt, um Ihn zu erreichen. Doch diese Gedanken sind beide falsch und alle beide sind nichtig. In Wirklichkeit gibt es ganz besondere Wege, um eine Sache zu erreichen und erlangen. Solange man diese nicht nutzt, kann man die gewünschte Sache auch nicht erreichen. Bevor ich aber näher darauf eingehe, auf welchen Wegen man Gott erlangen kann, halte ich es für wichtig, zu erklären, was „Gottesbewusstsein“ und „Gotteserkenntnis“ bedeuten. Sehr viele Leute sagen ohne Weiteres, dass sie zu keiner Gotteserkenntnis gelangen, aber sie wissen gar nicht, was das denn eigentlich heißt. Sie haben diese Begriffe nur von ihren Vätern und Vorvätern aufgeschnappt, allein sie begreifen ihre wahre Bedeutung und ihren Sinngehalt nicht. Deswegen will ich erklären, was sie bedeuten.

Irfan und ma’rfat (Erkenntnis) sind Worte aus dem Arabischen, die in etwa mit ilm (Wissen; Kenntnis) gleichzusetzen sind, aber mit einem wesentlichen Unterschied: „Wissen“ umfasst u.a. auch die Bedeutung, dass es ohne große Anstrengung und Beschwernis erlangt werden kann, doch „Erkenntnis“ meint, dass sie durch Nachsinnen und Überlegung erworben wurde. Und obwohl das Wort „ilm“ auch in den Bedeutungen von „irfan“ verwandt wird, findet sich in den Bedeutungen von „irfan“die Voraussetzung, dass sie nach eingehender Reflexion und Erwägung gewonnen wurde. Sie verhalten sich also wie das Allgemeine zum Besonderen. Ilm ist das Allgemeine und Irfan ist das Besondere. Eben deswegen kann man im arabischen Sprachgebrauch zwar sagen „arafa rabbuh“, d.h. „Er hat seinen Herrn erkannt“, nicht aber „arafa abdahu“, d.h. „Allah hat seinen Diener erkannt“. Stattdessen verwendet man in Bezug auf Gott das Wort „ilm“, weil Gott keiner Überlegung und Reflexion bedarf. Also wird in Bezug auf Gottes Wissen nicht das Wort „irfan“ verwandt, sondern dieser Begriff beschränkt sich auf das Wissen des Menschen. „irfan“ bedeutet damit, dass dem Menschen nach eingehender Überlegung, Erwägung und Reflexion das Wissen um das Wesen Gottes zuteilwird und er seinen Herrn erkennt. „Erkennen“ bedeutet, jemanden oder etwas anhand seiner eigentümlichen und besonderen Merkmale, die ihn von anderen abheben, zu erfassen. Beispielsweise, wenn man sagt „Hinz hat Kunz erkannt“, dann bedeutet das, dass Kunz anhand seiner Alleinstellungsmerkmale, die ihn von anderen abheben, unter allen anderen identifiziert und ausgemacht wurde. Genauso bedeutet „Gotteserkenntnis“, dass der Mensch dasjenige Wesen, von dessen Attributen er im himmlischen Buch gelesen und erfahren hatte – dass Gott gnädig und gütig, vergebend und nachsichtig ist –, erlangt, welches eben diese Attribute aufweist und in welchem er diese Attribute auch bezeugen kann. „Erkenntnis“ bedeutet also nicht, dass der Mensch weiß, dass Gott gnädig, gütig und barmherzig ist, denn das weiß ja jeder Muslim ohnehin. Und wenn das allein schon Erkenntnis wäre, dann gäbe es auch keinen Bedarf mehr, weitere Erkenntnis zu erlangen. So könnte jeder Mensch, allein durch die Kenntnis der verschiedenen Attribute Gottes, die im Quran und in den Hadith dargelegt wurden, als Eingeweihter gelten. Dem ist aber nicht so. Jedermann erkennt an, dass Gott der Herr ist, sie sind überzeugt, dass Gott barmherzig ist, sie bekunden, dass Gott gütig ist, ihr Beschützer und Schirmer ist, doch man kann sie deswegen noch lange nicht Gotteseingeweihte nennen. Hieraus lässt sich ersehen, dass kein Mensch bloß durch die Kenntnis der göttlichen Attribute zum Erkenntnismenschen wird, zumal dieser nur einer sein kann, der Gott wahrlich erkannt hat. Dieses Erkennen meint, dass man in Ihm aller Attribute und Dinge, die in keinem anderen Wesen vorzufinden sind, ansichtig wird und sie bezeugt. Ein Beispiel dafür ist: Jemand hat gehört, dass eine gewisse Person soundso im Gesicht aussieht, soundso in ihren Gewohnheiten ist, soundso in ihren Eigenschaften, soundso in ihrer Körpergröße und soundso in ihrer Kleidung. Wenn er nun einen Mann mit all diesen Besonderheiten erblickt, und angesichts dieser eigentümlichen Charakteristika versteht, dass dies die beschriebene Person sein muss, dann würde man sagen, dass er diese Person erkannt hat.

Genauso bedeutet Gotteserkenntnis, dass der Mensch, nachdem er die Gottesattribute kennt, auch erfährt, wer genau dieses Wesen denn ist, dem diese Attribute nachgesagt werden. So jemand weiß nicht nur, dass ein Wesen „Der Lebensgeber“ ist, sondern er findet selbst zu demjenigen Wesen und bezeugt persönlich, dass dieses wahrlich lebensspendend ist. Erkenntnis bedeutet also auch, dass man die Dinge, die man nur gehört hat, in einem Wesen auch wiederfindet und dadurch in Erfahrung bringt, dass dieses Wesen wahrlich das mit diesen und jenen Attributen sein muss. Doch bedauerlicherweise wissen viele Menschen nicht einmal, was Erkenntnis ist. Sie lassen einfach Ausdrücke fallen, die sie selbst nur vom Hörensagen kennen, und jammern und winseln, dass ihnen doch nur Erkenntnis zuteilwerden möge. Wenn man sie denn einmal fragen würde, würden 99 von 100, ja, nicht einmal 999 von 1000 irgendetwas erklären können. Sie gleichen demjenigen, der bei Nacht mit Hand und Fuß im Dunkeln tappt, auf der Suche nach etwas, aber nicht einmal weiß, wonach genau er eigentlich sucht. Selbst wenn er nun diese Sache finden sollte, die er nur vom Namen her kannte, aber nicht weiß, wie diese Sache beschaffen ist, was sie auszeichnet und wie sie ist, dann kann er sie auch nicht wiedererkennen. Er würde sie vielmehr verwerfen und seine Suche unbehelligt fortführen. Nehmen wir an, jemand möchte eine Person treffen, ohne dass er wüsste, wo diese lebt, wie sie aussieht, was sie macht. Selbst wenn er nun irgendwo auf diese Person treffen würde, würde er ahnungslos an ihr vorbeilaufen, ohne sie erkennen zu können. So auch jene Menschen, die nicht einmal wissen, was Gotteserkenntnis ist; diese verdienen es nicht einmal, Gotteserkenntnis zu erlangen und zu Gott zu gelangen. Und selbst wenn sie auf irgendeine Weise Gottes Attribute bezeugen sollten, würden sie weiterhin ahnungslos bleiben, und selbst wenn sie Sein Wesen erblicken sollten, ohne die geringste Ahnung daran vorbeilaufen. Solche Leute, die sich ohne das geringste Verständnis der Wirklichkeit des Gotteserkenntnis und des Gottesbewusstseins auf die Suche begeben, gleichen exakt dem Mann in der folgenden Geschichte, über den man erzählt: Einmal hörte dieser Mann beiläufig ein paar Gedichtsstrophen von einem Durchreisenden, in denen jemandes Geliebte gepriesen wurde. Darin hieß es, sie sei von solcher Anmut und Schönheit, dass die ganze Welt sich in sie verliebt hätte. Als er das hörte, dachte er sich: ‚Wenn schon die ganze Welt sich ihr hingibt, was spricht dann dagegen, dass auch ich zu ihrem Verehrer werde?‘ Also wurde auch er zu ihrem Verehrer, und begann, sie zu belobhudeln und den Pegasus zu reiten, indem er Verse über seinen Trennungsschmerz schmiedete. Er war Lehrer an einer Schule. Eines Tages kam ihn einer seiner Freunde in der Schule besuchen. Dort angekommen erfuhr er, dass sein Freund sich dort schon seit Längerem nicht mehr blicken lasse. Also ging er zu ihm nach Hause und sagte zu seiner Hausangestellten, sie solle ihm ausrichten, dass ein Freund ihn besuchen kommt. Sie antwortete, dass der Hausherr zurzeit niemanden sehe, weil er von großer Pein geplagt sei. Er sagte ihr, sie solle ihm bitte ausrichten, wer ihn besuchen kommt, und falls er sich dann immer noch weigert, würde er heimkehren. Als sie ihm das ausgerichtet hatte, ließ der Lehrer seinen Freund eintreten. Als dieser dann zu ihm ging, fand er seinen Freund abgemagert, spindeldürr und äußerst geschwächt vor. Er fragte ihn, was denn los sei, woraufhin er erklärte: ‚Ich werde von unsagbarer Seelenqual heimgesucht.‘ ‚Wieso, ist etwa ein Verwandter gestorben?‘, fragte sein Freund. Daraufhin erzählte er ihm, dass seine Geliebte gestorben sei. Sein Freund fragte ihn, wer sie war, wo sie lebte und wie sie überhaupt hieß. Er erklärte: ‚Ich weiß weder ihren Namen, noch, wo sie lebt, und auch nicht, wie sie aussieht.‘ ‚Und wenn du nicht einmal wusstest, wie sie aussieht, wie hast du dich dann in sie verliebt?‘, erkundigte sich sein Freund. Daraufhin erklärte er: ‚Die Wahrheit ist, ich saß eines Tages in der Moschee, als jemand Strophen rezitierte, worin es hieß, dass die ganze Welt ihr Herz an diese Frau verloren habe. Also bin auch ich zu ihrem Verehrer geworden. Später habe ich dann einmal jemanden die Strophe rezitieren hören, in der es hieß, dass die Mutter Umars auf einem Esel verreist ist, aber weder sie selbst, noch ihr Esel wiedergekehrt sei. Daraufhin habe ich gedacht, dass das ganz bestimmt meine Geliebte gewesen ist und wenn sie nicht zurückgekehrt ist, dann ist sie sicher gestorben. Ansonsten hätte sie sich ja nicht so lange dort aufgehalten. Jetzt verstehst du selbst, dass jedes Ach und Weh, mit dem ich schreie, mir gering erscheint.‘ Daraufhin stand sein Freund auf, äußerlich aus Mitleid für seinen Kummer und innerlich aus Mitleid für seinen Verstand.

Es gibt also auch diese Art von Menschen auf der Welt, die sagen: Ach, wir finden Gott nicht, doch sie wissen nicht, was Gott überhaupt ist. Irfan-e-Ilahi heißt „Gott erkennen“, nicht jedoch „Kenntnis der Attribute Gottes“, denn diese wurden im Quran und den Hadith bereits dargelegt. Würde Irfan-e-Ilahi bedeuten, Gottes Attribute in Erfahrung zu bringen, dann sind diese doch einem bereits im Vorhinein bekannt. Bleibt noch Gottes Wesen selbst: Dessen Dimension ist bis heute von keinem erfasst worden, noch wird es jemand in Zukunft vermögen. Das bedeutet also, dass Erkenntnis etwas anderes bedeutet, und zwar, dass der Mensch das Wesen identifiziert, das all die Attribute, die er über Gott gehört und gelernt hat, aufweist. Dies ist der Weg zur Gotteserkenntnis, der im weiteren Verlauf verschiedene Bezeichnungen besitzt.


[1] Gottesandacht (Anm.d.Übers.)

[2] Wahrhaftigkeit von Träumen (Anm.d.Übers.)

[3] Zu diesem Zeitpunkt hat einer unserer Freunde uns eine Notiz ausgehändigt, in der es heißt, dass die Begriffe „Gotteserkenntnis“ und „Gottesbewusstsein“ erläutert werden mögen. Er sollte wissen, dass eine Ausführung solange unvollständig bleibt, wie nicht näher erklärt wurde, was denn überhaupt das auszuführende Thema ist. Wenn ich also aufgestanden bin, um etwas über Gotteserkenntnis darzulegen, was soll ich denn ausführen und Ihnen erklären können, wenn ich nicht einmal die eigentliche Grundthematik und Definition vorgelegt habe? Seien Sie also versichert, dass die Erläuterung zu Gotteserkenntnis im weiteren Verlauf von selbst auftauchen wird.

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