Gotteserkenntnis – Teil 3
Gotteserkenntnis ist mit dem Herzen verbunden, nicht der Zunge
An dieser Stelle ist es auch von Bedeutung zu erwähnen, dass Gotteserkenntnis nichts ist, dessen Realität in Worte gefasst werden könnte. Wenn dem so wäre, könnte sie nämlich jedermann eingeschärft werden und jeder könnte sie begreifen. Doch dem ist nicht so. Wer hatte mehr Liebe und Mitgefühl in seinem Herzen für die Menschen als der Heilige ProphetSAW? Gott spricht über ihn:
لَعَلَّكَ بَاخِعٌ نَّفْسَكَ أَلَّا يَكُونُوا مُؤْمِنِينَ (Ash-Shu’ara; Vers 4)
„Vielleicht grämst du dich noch zu Tode darüber, dass sie nicht glauben.“
Hätte der Heilige ProphetSAW – der solch ein großer Wohltäter für die Menschheit war, dass Allah zu seinen Gunsten sprach, er würde sich ihretwegen noch zu Tode grämen – es vermocht, Gotteserkenntnis in Worte zu fassen, dann wäre er dem sicherlich nachgekommen. Doch das tat er nicht. Hieraus ersehen wir, dass die Gotteserkenntnis an und für sich schon etwas ist, was man nicht in Worten ausdrücken kann. Sie hat mit dem Herzen zu tun. Wie ich sagte, bedeutet Gotteserkenntnis, Gott zu finden. Die Realität davon lässt sich nicht in Worte eingießen. Wäre das möglich, hätten der Heilige ProphetSAW und der Verheißene MessiasAS alle als Gotteseingeweihte zurückgelassen. Auch ich werde daher nicht die Wirklichkeit dessen in Worten darlegen können, wohl aber werde ich die Mittel und Wege dahin, die uns beigebracht wurden, vorbringen.
Es steht geschrieben, dass weder ein Lehrling die Innenwelt seines Meisters kennt noch ein Meister die seines Lehrlings. Das bedeutet, dass die Zustände, die ihre Herzen bergen, dem jeweils anderen gänzlich unbekannt sind. Die Verfassung im Herzen des einen kann der andere nicht ermitteln. Es geht soweit, dass der, der sie erlangt, sie selbst nicht beschreiben kann. Es können lediglich jene Methoden erörtert werden, die zu dieser Verfassung führen, und eben diese werde ich ausführen. Was die Frage angeht, welcher Zustand eintritt, wenn man diese befolgt, so konnte das weder bis heute jemand in Worte fassen, noch kann ich es. Man kann zwar jemandem erklären, wie man eine Süßigkeit gewinnt, wie sie beschaffen ist, aber ihren Genuss und Geschmack kann man ihm nicht beschreiben, solange man ihn damit nicht verköstigt. So kann man zwar jemandem erklären, wie Gotteserkenntnis aussieht, aber nicht, welchen Genuss dessen Erlebnis mit sich bringt. Erst, wenn einer diese selbst erlangt, kann er diese Verfassung persönlich erleben.
Die Mittel zur Entdeckung des Wesens Gottes
Nun stelle ich die richtigen Mittel und Wege zur Erlangung von Gotteserkenntnis dar. Was ich bereits erklärt habe, ist, dass Gotteserkenntnis bedeutet, das Wesen zu identifizieren, dessen Attribute im Heiligen Qur‘an geschildert worden sind. Nun gilt es zu schauen, was die Mittel dieses Erkennungsprozesses sind. Hierfür sollte man sich ins Gedächtnis rufen, falls „erkennen“ bedeutet, dass der Mensch Gott wie andere Dinge vor sich findet und Ihn mit seinen materiellen Gliedmaßen berührt, dass dann unvermeidlich ist, dass der Mensch die Eigenschaften aufweist, die in Gott vorzufinden sind. Auf der Welt machen wir nämlich die Erfahrung, dass die Dinge, die wir mit unseren materiellen Gliedmaßen berühren, ebenso materiell sind. Und je weniger greifbar und körperlich sie sind, umso weniger lassen sie sich ohne Weiteres sinnlich wahrnehmen. Der Grund dafür ist, solange zwischen zwei Dingen keine Ähnlichkeit besteht, solange können sie miteinander auch nicht interagieren. So wie ein Büffel und Wissensdisziplinen keinerlei Ähnlichkeit aufweisen. Wenn man diesem nun irgendeine Philosophie vorlegt, wird er sie nicht verstehen können. So auch Papageien, die uns zwar in der Sprache ähneln können, nicht aber in der Vernunft. Deswegen können sie zwar die Sprache nachahmen, aber nichts davon begreifen.
Entwickelt Ähnlichkeiten zu Gott
Daraus verstehen wir, dass es für die Gotteserkenntnis der Ähnlichkeit und des gegenseitigen Zusammenhangs bedarf. Das Wissen um Gott kann erst dann erlangt werden, wenn man Gott zu ähneln und in den Eigenschaften nahezukommen beginnt. Ich sage nicht, dass wir keine Gotteserkenntnis erlangen können, solange unser Wesen nicht Gott gleicht, sondern das, was der Heilige ProphetSAW sagte:
تخلقوا باخلاق الله
„Macht euch die Wesenszüge Allahs zu eigen.“
Entwickelt in euch die Attribute Gottes
Der Heilige ProphetSAW sagte dies, eben damit zwischen euch und Gott Ähnlichkeit entsteht, und wenn diese entstanden ist, dann werdet ihr Gott sehen. Er sagte nicht „Schafft ein gottgleiches Wesen“, sondern „Gleicht eure Wesenszüge und Tugenden denen Gottes an“, und zwar, weil keiner das Wesen Gottes erfassen kann. Und wenn es keiner begreifen kann, dann kann er sich auch keine Gleichheit erarbeiten. Also kann der Mensch das Wesen Allahs nicht wie irgendein anderes Ding beschauen, sehr wohl aber die Attribute, die er in Erfahrung bringen kann, in sich aufnehmen. So kann er Gott auch sehen. Deswegen hat der Heilige ProphetSAW also darauf hingewiesen, die Wesenszüge Gottes in sich zu entwickeln und damit sind die Attribute Allahs gemeint.
Wo ich gerade das Wort „Attribute“ sprach, fiel mir der Traum eines Freundes ein. Er erzählte mir, dass er geträumt hatte, wie ich anlässlich der Jalsa Salana eine Rede über die göttlichen Attribute halte. Also bat er mich, eine Rede über die göttlichen Attribute zu halten. Als er mir von diesem Traum berichtete, waren schon andere Themen für die Jalsa ausgewählt worden, doch jetzt gerade, als ich das Wort „Attribute“ aussprach, fiel mir sein Traum wieder ein.
Die Attribute Gottes in sich zu wecken ist also eine Voraussetzung für die Erlangung von Gotteserkenntnis, weil der Mensch keine Manifestation Allahs werden kann, solange er nicht eine Art von „Rabb“, eine Art von „Rahman“, von „Rahim“, von „Muhaimin“, von „Sattar“, von „Ghaffar“ geworden ist. Je mehr er von den Attributen Gottes erleuchtet wird, je stärker wird er ihre Manifestationen bezeugen können. Als vollkommener Mensch und Gotteseingeweihter wird freilich nur der gelten, der all die Attribute Allahs, die mit dem Menschen zu tun haben, in sich entwickelt. Hiernach wird es ein Leichtes für ihn sein, zu Gott zu finden, wo jetzt ja eine Bindung und ein Zusammenhang zwischen ihm und Gott besteht.
Nun stellt sich die Frage, wie die göttlichen Attribute in sich entwickelt werden sollten. Ein Dichter schrieb einst:
Bei Kopfschmerzen schafft Sandelholzöl Abhilfe, doch
trinken, zerstoßen, auftragen ist ein Kopfschmerz für sich
Die Wege, um in sich die göttlichen Attribute zu entwickeln
Man kann also zwar jetzt sagen, dass man den Punkt, dass man für die Erlangung von Gotteserkenntnis Gottes Attribute in sich aufnehmen sollte, verstanden hat, doch man sollte auch wissen, wie man diese überhaupt entwickeln kann. Viele Menschen versuchen barmherzig anderen gegenüber zu sein und keine Strenge walten zu lassen, aber ihre Hartherzigkeit erlaubt ihnen das nicht. Viele Menschen wünschen sich auch, die Fehler anderer zu bedecken, aber dann posaunen sie sie bei irgendeiner Gelegenheit doch heraus. Es gibt auch viele Menschen, die danach streben, in sich die Eigenschaft der Vergebung und Nachsicht zu wecken, aber es nicht schaffen. Wenn die Menschen es demzufolge trotz jeglicher Bemühung und Anstrengung nicht schaffen, diese Attribute hervorzubringen, dann fragt sich, wie der Mensch seine Werke derart formen kann, dass sich darin die göttlichen Attribute zu manifestieren beginnen.
Die erste Methode: Das Wissen um die Gottesattribute
Daher ist die erste Sache, die von Bedeutung ist, dass der Mensch die Gottesattribute weiß. Denkt nicht, das sei etwas Banales. Niemand weiß darum: Es gibt sehr viele Leute, denen die Attribute Gottes nicht einmal gegenwärtig sind, und falls doch, dann kennen sie ihre Bedeutungen nicht. Beispielsweise ist es unter den Muslimen gang und gäbe, die Namen Gottes auswendig zu lernen, aber sie kennen ihre Bedeutungen nicht. Und solange einem die Bedeutungen nicht bewusst sind, kann ein bloßes Wort allein weder eine Wirkung entfalten, noch irgendeine Veränderung in den Handlungen des Menschen heraufbeschwören. Zuerst einmal kennen viele nicht die Namen Gottes (d.h. Seine Attribute) und wer sie kennt, der kennt deren Bedeutungen nicht. Und damit nicht genug: Bei denen, die ihre Bedeutungen kennen, rufen sie keine besondere geistige Verfassung hervor. Solange nämlich keine geistige Verfassung daraus resultiert, sind bloße Worte zu nichts nütze. So bedeutet „Shatun“ etwa Ziege. Wenn man nun jemandem beibringt, dass Shatun Ziege heißt, er aber gar nicht weiß, was eine Ziege überhaupt ist, dann wird er das nicht verstehen können.
Ob man solche Bedeutungen kann oder nicht, ist völlig gleich, solange sie nicht im menschlichen Verstand die wahre geistige Verfassung wachrufen. Es reicht dementsprechend nicht aus, nur Bedeutungen zu können, vielmehr müssen sie auch einen Zustand im Verstand erwecken. Doch die meisten Menschen sind dieser geistigen Verfassung völlig unkundig. Wenn man etwa jemanden nach der Bedeutung von „Rabb“ fragt, wird er sagen „der Versorger“, doch sein Herz wird nicht von der geistigen Verfassung dieses Begriffs „der Versorger“ vereinnahmt werden. Es werden sich seinem Herzen dessen Bedeutungen nicht einprägen. Die Attribute Gottes zu kennen, heißt also nicht nur, die Namen auswendig zu wissen oder sich ihrer Bedeutungen bewusst zu sein, sondern die Gottesattribute zu kennen, ihre Bedeutungen zu verstehen und bei sich im Herzen unverzüglich die dazugehörige geistige Verfassung wachzurufen, sobald jenes Wort einem auf die Zunge oder zu Ohren kommt. „Rahman“ bedeutet zum Beispiel „der ohne Verdienste Gnade Erweisende“. Wann immer jemand dieses Wort auf der Zunge hat, soll in seinem Herz nicht nur der bloße Satz „der ohne Verdienste Gnädige“ aufkommen, sondern auch dessen wahrer Sinnzusammenhang, d.h. ihm sollen all die Wohltaten und Gunsterweisungen Allahs, die Er uns ohne jeglichen Verdienst unsererseits erwiesen hat, blitzartig vor dem geistigen Auge schweben. Dieses Attribut soll ihm in verbildlichter Gestalt im Sinn aufkommen. Und wer das nicht schafft, der soll im Herzen die dazugehörigen Verbildlichungen infolge seiner Denkarbeit aufleben lassen, damit er von der entsprechenden geistigen Verfassung vereinnahmt werden kann. Viele Menschen, wenn sie nach der Bedeutung irgendeines Gottesattributes gefragt werden, können dieses benennen, aber schweigen, sobald man sie nach dessen Auslegung fragt. Sie entsprechen jener Person, die, als man sie nach der Auslegung der Strophe fragte
Wir waren, ihr wart, und Mir, alle waren es
Sie alle Gefangene seiner Haarlocke waren es
sagte, dass das bedeute: Wir und Ihr und Herr Mir wurden allesamt festgenommen, mit seinen Haaren gefesselt und ins Gefängnis geschickt.
Die Methode, um die wahren Gottesattribute zu erreichen
Aus diesem Grund reicht es nicht, nur die Bedeutungen der Worte zu kennen, solange nicht mit diesen Worten eine geistige Verfassung einhergeht, die diese wachrufen. Deshalb ist es elementar, dass der Mensch die Bedeutung jedes einzelnen Attributes Gottes kennt und sie dann verbildlicht, damit sich die dazugehörige geistige Verfassung in seinem Herzen einprägt. „Rabb“ bedeutet zum Beispiel „der Schöpfer und der nach der Schöpfung schrittweise zur Vervollkommnung Führende“. Also möge er sich dieses Attribut verbildlichen, indem er überlegt, was „schrittweise zur Vervollkommnung führen“ bedeutet, und auf welche Arten und Weisen Gott alles schrittweise vervollkommnet. Er möge sich dies solange verbildlichen und vor Augen führen, wie nicht sein Herz vollends von dieser geistigen Verfassung vereinnahmt wird. Wer immer also die Attribute Gottes in sich entwickeln will, muss zwingend berücksichtigen, was diese bedeuten. Danach muss er wahres Wissen darüber gewinnen. Vergegenwärtigt euch, dass, wenn ihr wahres Wissen über die Attribute Gottes gewinnt, ihr dann von selbst zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wisst, denn gut ist nichts anderes, als die Aneignung und Befolgung dieser Attribute; und schlecht ist nichts anderes, als selbige zu verlassen und dagegen zu handeln. Im Grunde wurde im Heiligen Quran genau dies gelehrt, d.h. seine Taten den Attributen Gottes unterzuordnen und sich vor all den Dingen zu hüten, die diesen zuwider sind. Alle weiteren Ausführungen zu Gutem und Schlechtem sind nur davon abzweigende Erläuterungen und Erörterungen. Viele wissen nicht, was denn gut oder schlecht ist, weswegen sie des Öfteren irrigerweise das Schlechte für etwas Gutes halten und das Gute umgekehrt für etwas Schlechtes. Der Grund dafür ist, dass sie sich nicht bewusst sind, was die Attribute Gottes von ihnen erwarten.
Isa Musa
3 Jahren agoJazakumullah