Gott hat die Besserung der Moral und den materiellen Fortschritt von der Religion abhängig gemacht.

(FREITAGSANSPRACHE VON HADHRAT MUSLEH-MAU’UDRA – GEHALTEN AM 17. JULI 1936 IN DHARAMSALA)

Nach tašahhud, taʿawwuḏ und der Rezitation der Sure al-Fātiḥa sagte erRA:

Der Islam ist eine Religion, die Allah unter Berücksichtigung aller Naturen geformt hat. In der Welt sind die Religion, die Moral und die mit dem Körper des Menschen verbundenen Bedürfnisse derart miteinander verwoben, dass es schwierig ist, diese Dinge voneinander abzugrenzen. Wann immer wir uns von unten nach oben bewegen, d.h. uns beim Nachdenken über die Ansprüche körperlicher Bedürfnisse hin zur Ethik und zu moralischen Werten und schließlich zur Religion fortbegeben, scheint auf den ersten Blick alles ein Teil der Materiellen zu sein; und wenn wir uns von oben nach unten begeben, d.h. von der Religion hin zum Materiellen, so scheint es vielmehr so, als seien alle Dinge mit der Religion verbunden. Eben das ist der Grund, wieso manche, die gewohnt sind, über das Materielle nachzusinnen, allmählich jegliche Notwendigkeiten der Religion und all ihre Gebote zu einem Teil des Materiellen erklären, und die, die gewohnt sind, über die Religion nachzusinnen, alle Dinge für einen Bestandteil der Religion erklären, so weit sogar, dass ihres Erachtens selbst die allerkleinste Sache auf der Welt Teil der Religion ist.

Genau dies ist ein unterscheidendes Merkmal zwischen Hindustan [dem indischen Subkontinent] und Europa: Die hindustanischen Menschen sind bestrebt, jede Sache – ganz egal, ob sie mit der Moral oder dem Materiellen zu tun hat – als einen Teil der Religion hinzustellen, während aber Europäer bemüht sind, spirituelle und moralische Dinge als Teil der materiellen Welt zu sehen. Wenn diese Menschen über die Offenbarung nachzudenken beginnen, sagen sie, dass das Teil menschlichen Tuns ist; wenn sie über die Moral nachdenken, dann ebenso aus der Perspektive, dass der Mensch weltlichen Nutzen daraus zieht; und wenn sie über die Religion nachdenken, sagen sie, dass Menschen niedrigeren Ranges, die ungebildet sind, durch den Namen der Religion vor Verbrechen und Chaos und Unruhestiftungen abgehalten werden. Betrachtet man im Gegensatz dazu die Bewohner Hindustans, insbesondere die Muslime, so sind sie vielmehr darum besorgt, jede Sache zum Teil der Religion zu machen. Beim Fasten und Gebet angefangen, hinabsteigend zu Moral und allen weltlichen Erfordernissen, sei es die Gründung irgendeiner Vereinigung oder die Abhaltung irgendeiner Versammlung: sie beteuern in jedem Fall, dies alles sei ihrer Meinung nach ein Teil des Islams, und jeder, der sich dessen enthielte, sei ein Ketzer und Abtrünniger. Diese Angelegenheit hat durch Übertreibung langsam solche gefährlichen Züge angenommen, dass selbst die geringfügigsten aller Dinge, ob nun materiell oder moralisch, zu Bestandteilen der Religion erklärt wurden. Es ist nun soweit gekommen, dass die Religion inzwischen schon nach Einzelpersonen benannt wird: Der eine hochgeehrte Herr hat diese Religion, der andere Gelehrte jene. Auf diese Weise ist vom eigentlichen Islam nichts mehr übriggeblieben. Diese Leute haben sich weit vom Islam entfernt.

Wenn man nachdenkt, wird einem klar, dass in Wahrheit das Materielle, die Moral und die Religion derart ineinander überfließend sind, dass ein gewöhnlicher Mensch nicht so leicht ausmachen kann, wo die Grenze des einen beginnt und wo sie endet. Wäre die Religion der Moral nicht so nahe, dass man es schwierig hätte zu sagen, wann die Religion in die Moral überfließt, und wäre die Moral dem Materiellen nicht so nahe, dass man es schwierig hätte zu sagen, wann sie in das Materielle übergeht, dann gäbe es nicht all die Meinungsverschiedenheiten, die man heute vorfindet.

Also kann man aus den Meinungsverschiedenheiten beider Völker ableiten, dass beide Dinge eigentlich zwei Glieder der gleichen Kette und also miteinander verbunden sind. Sie sind einander so nahe, dass man nicht begreifen kann, wo die genauen Grenzen liegen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der eine, weil er von unten nach oben geht, d. h. sich ausgehend vom Materiellen zur Religion bewegt, und daher den Einfluss des Materiellen als gegeben sieht, die oben liegenden Dinge dem Materiellen unterwirft, während der andere, der ausgehend vom Studium der Religion zum Materiellen fortschreitet, geneigt ist, die Moral und das Materielle der Religion zu unterwerfen, denn er sieht vielmehr den Einfluss des Obigen als gegeben an. Und weil diese Dinge einander stark ähneln, fällt eine genaue Abgrenzung schwer. Gerade deswegen, weil diese Abgrenzung nicht geschah, sind zwei Parteien entstanden: Die eine ordnet jede Sache dem Materiellen unter, die andere dem Spirituellen. Wer aber genau hinschaut, wird alle beide im Irrtum vorfinden. Wer sich von oben nach unten begeben hat, hat den Unterschied nicht gesehen und ist einem Irrtum aufgesessen, genau wie auch der, der sich von unten nach oben begeben hat, die genaue Differenzierung aus den Augen verloren hat und ebenso einem Irrtum erlegen ist. Im Leben des Heiligen ProphetenSAW aber sehen wir beide Aspekte. Es wird ganz klar und augenscheinlich, dass er sowohl der materielle Reformer der Welt war als auch der moralische Reformer und der spirituelle Reformer. Sein heiliges Leben erscheint als Vereinigungspunkt all dieser Aspekte. Während er zum einen lehrt:

„الدُّعاءُ مُخُّ العبادۃِ“
(Tirmidhi, Kitab-du-Dawaat, Bab Ad-Dua mukhul Ibadah)

(„Das Bittgebet ist die Essenz der Anbetung“), legt er zum anderen ebenso Wert auf die Vervollkommnung der Spiritualität. Die Verbindung des Bittgebets zwischen Allah, dem Erhabenen, und Seinem Diener ist wie die Verbindung von Kind und Mutter. „Dua“ bedeutet „Rufen“. Der Rufende ruft dann, wenn er die Gewissheit hat, dass ihm auch jemand zu Hilfe eilen wird, denn wer würde schon seinen Feind zu Hilfe rufen, indem er schreit „Rette mich?“ Stattdessen würde man sich in so einer Situation doch eher in Schweigen hüllen, damit einen keiner auslacht.

Ein Bittgebet machen dreierlei Dinge aus: Erstens, dass man im Herzen überzeugt ist, dass das eigene Anliegen erhört wird. Zweitens, dass man darauf vertraut, dass derjenige, den man anruft, die Macht hat, einem zu helfen. Drittens, eine der Natur entspringende Zuneigung, die den Menschen von jeder sonstigen Art von Zuneigung entbindet und zu Ihm allein hinzieht. Die ersten beiden sind verstandesmäßige Punkte. Der dritte aber ist eine natürliche Liebe, die sein Auge für die eine Seite verschließt, um den Menschen zu Seinem Geliebten hinzuführen. Man nehme das Beispiel des Kindes und der Mutter. Das Kind hegt eine natürliche Bindung zur Mutter. Das Kind ruft nach ihr, ungeachtet dessen, ob sie ihm helfen kann oder nicht. Ein im Meer ertrinkendes Kind, obwohl es weiß, dass seine Mutter nicht schwimmen kann, würde für seine Rettung trotzdem nur nach seiner Mutter schreien, und nach niemandem sonst. Es ruft ganz unwillkürlich nach seiner Mutter. Diese emotionale Beziehung ist es, über die der Heilige ProphetSAW sprach:

„الدُّعاءُ مُخُّ العبادۃ“

Ohne das Dua kann der Mensch seinen Glauben nicht vervollkommnen. Der Heilige ProphetSAW hat also die Beziehung zwischen dem Menschen und Allah der zwischen Mutter und Kind für ähnlich befunden, d.h. der Mensch soll also sein Auge für die Welt verschließen und allein zu Ihm gelaufen kommen und sich einzig vor Seiner Pforte niederwerfen, wann immer ihn ein Schmerz ereilt.

Zu der zweiten Sache, der Moral, finden wir im Leben des Heiligen ProphetenSAW solche haarfeinen moralischen Aspekte, dass nicht einmal der Tiefblickende sie sofort erkennt. Man sehe sich beispielsweise nur den Umgang mit den Ehefrauen an. So wird überliefert, dass er, wenn eine seiner Ehefrauen Wasser trank, seinen Mund an die gleiche Stelle legte, um von dort zu trinken, von wo sie getrunken hatte.

Freilich eine kleine Geste, doch welch subtiler Punkt damit verdeutlicht wird, dass nämlich die menschliche Liebe sich nicht zwingend durch große Taten zeigt, sondern es sind die kleinen Dinge und Aufmerksamkeiten. Auch in den großen Fragen der Moral hat er solche Lehren erteilt, die den Anschein erwecken, diese Person habe ihr Leben lang die Morallehre studiert. All solche Dinge wie die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Verwandtschaftsverhältnisse, die Erörterungen des persönlichen Charakters eines Menschen, die Lüge, das Fernhalten von Falschheit, finden sich wieder und es gibt keine Angelegenheit, die nicht erwähnt worden wäre. Vielmehr offenbarte er in seinem eigenen Wesen solch ein vollkommenes Vorbild, welches ein anderer selbst in zig Leben nicht zu dieser Perfektion zu führen vermocht hätte.

Die dritte Sache ist das Materielle. Auch diesbezüglich finden wir im Leben des Heiligen ProphetenSAW die Lehre der Verbesserung, mit der seine Lehre überfüllt ist: Verbreitert die Straßen, haltet das Wasser sauber, reinigt die Gehwege, baut offene Häuser usw. Auch in materiellen Begriffen ist seine Lehre derart vollkommen, dass es einen in Staunen versetzt. Der Heilige ProphetSAW hat alles Materielle, was wichtig war, sei es nun die Politik betreffend, oder die Zivilisation, den Handel oder die Handarbeit, an seiner jeweiligen Stelle ausgeführt. Nichtsdestoweniger hat der Heilige ProphetSAW dabei nicht wie die Menschen des heutigen Zeitalters versucht, alle Dinge der Welt zum Bestandteil der Religion zu erklären. Beispielsweise findet sich eine Begebenheit über ihn: Einmal waren einige Leute dabei, etwas anzubauen. Er ging vorbei, als sie gerade dabei waren, die männlichen und weiblichen Pflanzen zur Bestäubung zusammenzutun. Er sagte „Ich denke nicht, dass das etwas bringt“. Also hörten die Leute damit auf. Daraufhin fiel die Ernte im folgenden Jahr sehr gering aus. Als er sich dann später die Bäume ansah und darüber erkundigte, sagten die Leute „O Gesandter Allahs! Ihr habt es doch selbst gesagt“. Daraufhin sagte der Heilige ProphetSAW   „Ich hatte es nicht angewiesen. Eure weltlichen Angelegenheiten kennt ihr selbst besser als ich.“[3] Damit hatte der Heilige ProphetSAW das Materielle von der Religion abgegrenzt. Nun waren es zwar die Worte des Gesandten Gottes, doch obwohl dies der Fall war, hat er das Materielle zum Materiellen erklärt, indem er sagte: Ihr kennt diese Angelegenheiten besser. Die Maulvis von heutzutage aber sind so eingestellt, dass sie, selbst wenn ihren Mündern Unmögliches entweicht, einen bei dessen Nichteinhaltung sofort aus dem Islam werfen und zum Ketzer und Abtrünnigen brandmarken wollen.

Dem gegenüber steht die Partei des Westens. Ihres Erachtens ist es weder vonnöten, an die Religion zu glauben, noch halten sie die Lehren des Propheten in Ehren, noch ist ihnen die Moral heilig. Sie erklären alles für etwas Materielles, soweit sogar, dass ihre Philosophen und Denker gesagt haben: Wichtig ist nicht, wie Gott die Welt erschaffen hat, sondern wie der Mensch sich Gott geschaffen hat. Ihrer Ansicht nach ist die Frage nach einem Gott ein Ergebnis menschlicher Evolution; dass also Gottes Wesen in der Tat eine Wirklichkeit sei, die für sie aber das Endresultat der kognitiven Fortentwicklung ist, und nichts weiter. Ihrer Auffassung nach habe der Mensch sich ein gutes Vorbild suchen wollen, doch als er keines unter den Menschen vorgefunden habe, habe er sich ein sich außerhalb menschlicher Sphären befindendes Abbild seiner Vorstellung erschaffen. Zu Beginn seiner Bemühungen sei dem Menschen noch kein Erfolg dabei vergönnt gewesen, jedoch habe er mit der Zeit, je weiter und tiefer er nachzudenken und sich fortzuentwickeln begann, ein immer vollständigeres Abbild erschaffen, dem er den Namen „Gott“ gegeben habe. Nun sei es die Pflicht jedes Menschen, Seinen Geboten Folge zu leisten, d.h. ihm nachzueifern und ohne diese Nachahmung könne er keinen Erfolg zeitigen.

Diese Leute behaupten, auch sie würden an Gott glauben und ihm gehorchen, doch nicht etwa deswegen, weil Gott den Menschen erschaffen habe, sondern weil der Mensch letztendlich ein vollkommenes Wesen erkannt habe. Und so haben diese Leute selbst Gott zum Teil des Materiellen erklärt. Auf der anderen Seite haben die Maulvis Hindustans alles und jedes, bis hin zu Zeitungen, Vereinigungen und Versammlungen, zum Teil der Religion verklärt. Doch auf diese Weise kann weder die Welt noch die Religion reformiert werden. Die Partei, die das Materielle dem Spirituellen unterworfen hat, behauptet, dass man mittels des Gebetes die Welt erlangen kann. Die Gegenpartei behauptet, um Gott zu erlangen habe man zu verdienen, speisen und bewirten. Sie möchte den Glauben durch bloße Denkvorstellungen erlangen, indessen sie das Spirituelle auf dem Altar der Verweltlichung opfert. Die beiden gehen selbst fehl und leiten andere fehl. Die Wahrheit ist die, die der Heilige ProphetSAW ausgesprochen hat, als er sagte, dass diese beiden Dinge getrennt voneinander sind und sie beide sind von Bedeutung. Sie zu vermischen ist nicht gestattet. So wie er einst auch sprach, dass das Gebet zweifellos wichtig sei, aber

d.h. „auch du selbst hast ein Anrecht auf dich, und deine Frau hat ein Anrecht auf dich, und dein Nachbar hat ein Anrecht auf dich“.

Für uns ist es also bindend, alle drei Mittel zum Einsatz zu bringen. Das erste davon ist ja das Dua, die Hingabe zu Allah, die Reumütigkeit, und der Gottesdienst; das zweite ist die Kontrolle über sich selbst, die Unterdrückung seiner Gefühlsregungen und die Reflexion über die menschliche Psychologie; das dritte ist die Arbeit und die Ehrlichkeit bei seiner Arbeit, und die Erlangung weltlichen Wissens.

All diese Dinge haben ihre Wichtigkeit, aber es ist eine jeweils eigene Sphäre vonnöten: Wer sie miteinander vermengt, das eine vorzieht oder zurückweist, begeht einen Fehler. Europa hat die Spiritualität der Weltlichkeit unterworfen, und dadurch Verweltlichung erlangt. Der nächste Satz hätte umgekehrt eigentlich lauten sollen „Hindustan hat die Religion bevorzugt und den Glauben erlangt“, aber bedauerlicherweise kann ich das nicht sagen, denn Hindustan hat nicht die Religion Gottes über alles gestellt, sondern ihren selbstsüchtigen Begierden den Namen „Religion“ gegeben. Also haben sie weder die Religion noch die Welt erlangt. So gesehen ist Europa eigentlich weiter, denn sie haben immerhin zumindest eines davon erlangt. Was die einen bevorzugt haben, haben sie auch erlangt, während die anderen sogar das fallen ließen, was sie eigentlich bevorzugt hatten. Genau um diesen Zustand zu beseitigen, erscheinen die Beauftragten Allahs. Sie weisen den Menschen den Weg und räumen der Religion, der Moral und der Welt ihren ihr jeweils zustehenden Platz ein. Auf den ersten Blick tragen sie nur eine spirituelle Botschaft bei sich, doch diese drei Dinge sind miteinander tiefgreifend verflochten. Durch die Vervollkommnung der Spiritualität folgt zwingendermaßen die Berichtigung der moralischen Werte, und durch die Achtung der Moral folgt zwingendermaßen die Ordnung des Materiellen. Das Gegenteil trifft aber nicht zu, d.h. es ist nicht zwingend, dass die moralischen Werte desjenigen berichtigt werden, dessen weltlichen Belange in Ordnung gebracht worden sind, oder dass die Religion desjenigen richtiggestellt wird, dessen Moral in Ordnung gebracht worden ist. Der Grund dafür liegt darin, dass Gottes Wille darin besteht, den Menschen zu Sich zu führen. Er hat dafür die Besserung der Moral und den materiellen Fortschritt der Religion unterworfen, damit derjenige, der sich Ihm zuwendet, alles andere von selbst erlangt. Gott spricht, dass der vollkommene Gläubige alle Fortschritte erlangt. Über den vollkommen Verweltlichten heißt es aber:

الَّذِينَ ضَلَّ سَعْيُهُمْ فِي الْحَيَاةِ.

„Ihre Mühe ist verloren in irdischem Leben“

Das bedeutet, für den, der die Spiritualität annimmt, d.h. von oben nach unten kommt, gibt es eine Treppe, nicht aber für den, der von unten nach oben gelangen will. Daraus ergibt sich, dass es auf der Welt für die Erlangung jedes dieser drei Dinge jeweils eigene Mittel und Wege gibt, aber auch ein gemeinsamer Weg existiert, und zwar die Entwicklung einer vollkommenen Beziehung zu Gott. Bemüht man sich um moralische Werte, erlangt man sie; bemüht man sich um Materielles, erlangt man es; doch jede dieser Mühen wird auf ihre jeweils eigene Sphäre beschränkt bleiben. Wer aber seine Spiritualität in Ordnung bringt, dem werden all diese Dinge auf einmal zuteil. Wenn die Gefährten (Allah sei erfreut durch sie) das Treuegelübde ablegten, schworen sie ja nicht, dass sie die Gassen offen bauen, breite Straßen errichten und Sauberkeit walten lassen würden, sondern sie rezitierten

لَا إِلٰهَ إِلَّا اللّٰهُ مُحَمَّدٌ رَسُولُ اللّٰهِ

(Al-Kahf, Vers 105)

‎Genau das berichtigte auch ihre Moral. Durch die Berichtigung der moralischen Werte folgt zwingendermaßen auch die der weltlichen Belange. Damals konnte niemand ein aus dem Mund eines Muslims abgegebenes Wort verwerfen, denn er sprach ausschließlich die Wahrheit und als die Welt die Aufrichtigkeit im Handel sah, legte sie den Handel den Muslimen förmlich in die Hände. Und als die Menschen sahen, wie gerecht mit den Bürgern umgegangen wurde, wünschten sie sich eben die Muslime als über sie Herrschende. Es gibt eine Begebenheit aus der Zeit von Hadhrat UmarRA. Einmal musste er seine Truppen aus Syrien zurückziehen, da die römische Armee in der Überzahl war, doch die syrische Bevölkerung weinte und flehte inständig, sie würden ihm beistehen, wenn sie doch nur irgendwie vor Ort blieben. Obwohl auch die Römer genau wie die Syrer Christen waren und sich also die gleiche Religion teilten, erklärten sie sich dazu bereit, den Muslimen beizustehen und lehnten es ab, sich ihrem eigenen

Volk unterzuordnen. Der Grund dafür war eben der, dass die Muslime mit ihren Untergebenen gerecht und aufrichtig umgegangen sind.

Auch wenn die Herrschaft etwas Weltliches ist und Angehörige einer jeden Religion regieren, war die Herrschaft der Muslime keine weltliche. Ihnen wurde diese Herrschaft durch die Religion zuteil und von daher folgte sie auch der Religion. Genau deswegen wies die Herrschaft der Muslime solche Vorzüge auf, die selbst andersgläubige Menschen nicht aufzugeben bereit waren. Und obwohl diese Herrschaft ihnen dank

لَا إِلٰهَ إِلَّا اللّٰهُ مُحَمَّدٌ رَسُولُ اللّٰهِ‎

zuteilgeworden war, handelte es sich nicht einfach um irgendein mündliches Bekenntnis, sondern dies war einem wahren Glauben zu verdanken. Denn der mit einem bloßen Lippenbekenntnis geht der Welt verlustig, während der mit aufrichtiger Glaubensüberzeugung sowohl seine moralischen Werte berichtigt als auch seine weltlichen Belange in Ordnung bringt. Und weil Gott das Königreich der ganzen Welt gehört, schenkt er dem mit wahrer Glaubensüberzeugung das weltliche Reich als Reflexion Seines Reiches.

Der Verheißene MessiasAS pflegte oft das Beispiel eines Händlers zu erzählen, der einmal eine stattliche Summe bei seinem Stadtvorsteher zur Aufbewahrung hinterlegte. Er würde sein Vertrauenspfand wiederholen, sowie er von seiner Reise zurückgekehrt sei. Doch als er zurückkehrte und seinen Beutel verlangte, stritt der Stadtvorsteher rigoros ab, irgendetwas von einem Beutel oder etwas Aufbewahrtem zu wissen. Der Händler versuchte ihn an alle möglichen Eckdaten der Ausmachung zu erinnern: Wann sie war, an welchem Tag und wie er damals gesessen hatte, doch der Stadtvorsteher wollte partout nichts davon wissen und behauptete, er würde ja nicht einmal solche Aufbewahrungsgegenstände annehmen. Diese Antwort zu hören beunruhigte ihn sehr. Letzten Endes empfahl ihm jemand, dass der König an einem bestimmten Wochentag seinen Hof öffne, damit jeder seine Belange vorbringen kann. Er solle also an diesem Tag hingehen und die ganze Begebenheit an ihn herantragen. Er tat, wie ihm geheißen. Doch da der Händler keine Beweise dafür hatte, entgegnete der König: „Wie soll ich den Stadtvorsteher ohne Beweise überführen? Doch! Es gäbe da vielleicht eine Möglichkeit. Ich werde mich an einem Tag zu einem königlichen Festzug aufmachen. Halte dich dann in der Nähe des Stadtvorstehers auf. Wenn ich an dir vorbeikomme, werde ich mit dir ganz ungezwungen reden. Spiel dann mit und tu dann so, als wärst du ein enger Freund von mir, und fürchte dich nicht. Ich werde dich fragen, warum man sich so lange nicht gesehen hat. Antworte dann, dass du auf Reisen warst, doch als du wiederkamst, Probleme dabei hattest, ein Vertrauenspfand wiederzubekommen, das du bei einem gewissen Herrn hinterlegt hattest, und dass du dich nicht treffen konntest, weil du derzeit dabei wärst, es wiederzubekommen. Daraufhin werde ich dann sagen: Nein, du hättest damit gleich zu mir kommen sollen, weil solche Probleme letzten Endes immer zu mir gelangen. Warum hast du es nicht direkt mir gesagt? Antworte daraufhin dann: Gut, in Ordnung, falls sich die Angelegenheit nicht lösen sollte, werde ich zu dir kommen. Also tat der Händler, wie ihm geheißen. Der Stadtvorsteher, der zur Begrüßung gleich neben ihm stand, hat alles mit angehört und ließ den Händler danach zu sich rufen. Er sagte: Mein Freund! Du warst doch letztens bei mir und hast etwas von einem Beutel erwähnt. Mein Gedächtnis ist in letzter Zeit so schwach. Nenn mir doch bitte irgendein Merkmal davon, vielleicht erinnere ich mich ja doch an das Vertrauenspfand. Der Händler wiederholte daraufhin nichts anderes, als was er schon zuvor einmal genannt hatte: wie er zu ihm gekommen war, wie er damals gesessen hatte, und wie er ihm dann den Beutel ausgehändigt hatte. Der Stadtvorsteher entgegnete: Ach! Wieso hast du das denn nicht gleich gesagt? Dieses Vertrauenspfand habe ich natürlich noch. So holte er das Geld hervor und übergab es dem Händler.

Wenn also schon die Freundschaft eines weltlichen Königs, dessen Mächte begrenzt sind, den Menschen auf diesen Rang erheben kann, dass einflussreiche Menschen zu bangen beginnen, wie ist es dann möglich, dass jemandem die Freundschaft mit Gott zuteilwird und die Welt ihm nicht zu Füßen zu liegen beginnt? In Anbetracht seiner Beziehung beginnt doch jedes Partikel, sich für diesen Menschen aufzuopfern, um Gottes Gunst auf sich zu ziehen. Indem der Mensch die wahre Religion erlangt, kann er tatsächlich die ganze Welt erlangen, und wenn die Religion einmal da ist, kommen alle anderen Dinge von selbst. Diese Dinge, die die edlen Gefährten erreicht haben, haben sie nicht auf weltliche Wege erlangt, sondern, indem sie weltliche Belange der Religion unterworfen haben. Dafür bedarf es jedoch eines vollkommenen Glaubens, der Gottes Wohlgefallen in sich aufnimmt. Wie kann zum Beispiel ein Mensch, der vollkommenen Glauben annimmt, hohe moralische Werte aufgeben? Und wenn der Mensch alle Facetten der Moral berücksichtigt und vorlebt, d.h. wenn er Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Gottesfurcht und Reinheit und dergleichen erlangt, dann wird ihm infolgedessen zwingend auch das Wissen, die Kompetenz, der Scharfsinn und Fleiß zuteil, wodurch diese Person auch der Welt habhaft wird.

Ein Gläubiger sollte sein gesamtes Augenmerk also auf die spirituelle Beziehung richten. Nicht wie jene Menschen von heute, die meinen, Lippenbekenntnisse wären schon genug. Die Liebe Gottes kann nicht durch Worte, sondern einzig durch das Herz gewonnen werden. Und wenn das geschehen ist, kommt der Mensch in den Besitz jeder Sache. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein Berg durch die Spucke im Mund oder einen einzelnen Wassertropfen bedeckt worden wäre, wohl aber durch schwere Wolken. Genauso auch, wenn dem Herzen der Nebel der Liebe entweicht, denn dann folgen großartige Ergebnisse. Wer aber nur mündlich große Töne von sich gibt, ist dumm. Er wird weder den Glauben, noch die Welt bekommen. Der Gläubige hingegen sollte versuchen, vollkommen zu werden, denn einst schrieb jemand:

کسبِ کمال کُن کہ عزیز جہاں شوی

Solange ein Mensch nicht vollkommen wird, der kann auch keinen Preis verdienen. Auch beim Eintritt in die Religion profitiert man nur von Vollkommenheit. Der Verheißene MessiasAS pflegte zu sagen: Heutzutage ziehen nur diejenigen Nutzen von uns, die entweder eine vollkommen tiefgehende Beziehung zu uns pflegen, oder aber vollkommene Feindschaft zu uns hegen, wie etwa Maulvi Sana‘ullah Sahib und seinesgleichen. Die ganzen übrigen kleineren Maulvis fragt ja nicht einmal irgendjemand. Oder aber man ist ein vollkommen aufrichtiger Anhänger. Aus einer rein oberflächlichen Bindung folgt nämlich noch keinerlei Nutzen. Erst durch die Vollkommenheit gewinnt man Gnade. Ohne diese Vollkommenheit bleibt man der Gnade beraubt. Wenn der Mensch zu Gott mit dem Hintergedanken schreitet

„ہر چہ بادابادکشتئ مادر آب اندا ختیم“

[Wir haben das Schiff ins Wasser gesetzt, nun soll geschehen, was geschieht], dann wird mit ihm genau wie mit den Früheren verfahren. Gott hegt ja schließlich keine Feindschaft zu irgendwem. Wessen es bedarf ist, dass der Mensch sich vollkommen vor Gott hingibt und sich vor Seine Pforte niederlegt. Dadurch wird ihm von selbst alles andere zuteil. Jeder Fortschritt, der wichtig für ihn ist, wird ihm von selbst zuteilwerden. Ihr werdet jedes Körperteil desjenigen, der am Feuer sitzt, warm vorfinden: sein Gesicht, seine Hände und Füße. Wo immer ihr ihn anfasst, er wird sich warm anfühlen. Wie kann es dann also möglich sein, dass jemand alles aufgibt, um zu Gott zu kommen und bei Ihm zu sitzen, ohne dass auch Gottes Wesen sich in ihm zu offenbaren beginnt? Wenn Eisen ins Feuer fällt, beginnt es, die Eigenschaften des Feuers zu offenbaren, obwohl es doch selbst gar kein Feuer ist. Auf ähnliche Weise durchleben auch diejenigen, die Allahs Nähe erlangen, etwas Vergleichbares. Allah legt ihnen das Gewand desكُن فَيَكُونُ  [Gott spricht „Sei“, und es ist und bleibt] um, bis dass die Einfältigen anfangen, sie für Gott zu halten, obwohl sie lediglich die Attribute Gottes spiegeln.

Wenn also jemand Nutzen aus der Religion ziehen möchte, dann lautet der Weg dazu, dass er sich vollkommen vor Gott hingibt. Wenn aber ein ganzes Volk, das in seiner Gesamtheit tut, dann werden auf solch ein Volk besondere Gnaden herabgesendet. Es geht aus jedem Lebensbereich erfolggekrönt hervor. Auch für unsere Jamaat ist es wichtig, diesen Schritt zu tun. Viele Leute aber halten es für genug, das nur mündlich auszusprechen. Dabei sollte man Allah doch so lieben, dass diese Liebe zu etwas Natürlichem wird, und keine verlogene Behauptung mehr ist. Denn Falschheit und Gottesliebe können nicht am selben Ort existieren. Die Lüge ist eine Dunkelheit und Gottesliebe ein Licht. Wie können also Licht und Dunkelheit sich vereinen? So jemand soll weder Faulheit, noch Trug, noch Arglist aufweisen. All das sind nämlich Finsternisse, wohingegen Gott aber ein Licht ist.

اللَّـهُ نُورُ السَّمَاوَاتِ وَالْأَرْضِ

[„Allah ist das Licht der Himmel und der Erde.“]
(An-Nur, Vers 36)

Wenn diese Schlechtigkeiten aus einem Volk ausradiert werden, dann bleibt dieses Volk nicht länger gedemütigt und erniedrigt. All seine Erniedrigung verschwindet allmählich und es gelangt zu Ehren. Man sollte darum bestrebt bleiben, sich derart zu verbessern, dass man sich Gott zum Freund macht. Und bloß Worte mit dem Mund zu sprechen bringt rein gar nichts. Auch die Fatwa-Treiberei bringt einen nicht weiter. Auch bringt es keinen Nutzen, eine Vereinigung zu gründen oder einen Betrieb aufzumachen. All das sind lediglich Zweige. Wer sich aller Banalitäten entledigen möchte, der sollte sich selbst in Gottes Hände legen. Wenn man diesen Zustand auch nur für einen einzigen Augenblick erlangt, kann auf der Welt ein Wandel hervorgebracht werden. Seht ihr denn nicht, dass der Himmel aufblitzt, sobald zwei Wolken aufeinandertreffen, und die Dunkelheit der Nacht erleuchtet? Wie ist es dann möglich, dass der Mensch und Gott zueinander finden, sei es auch nur für eine Minute, ohne dass ein derartiges Licht entsteht, das die ganze Welt erhellt?

(Al-Fazl, 25. Juli 1936)                                                                                                      Übersetzt von Nayyar Sheikh


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